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10. Entkommen!

 

Hexe

»Wir müssen hier raus«, flüsterte Wolfsjunge und stürzte zur Küchentür. Er fasste nach der Klinke und zog – und fiel rücklings, den Griff in der Hand, in die Küche. Ein leises Klirren verriet, dass das Gegenstück der Klinke draußen zu Boden gefallen war. Wolfsjunge starrte die Tür an – wie sollte er sie jetzt aufbekommen?

»Lass das, du Dummkopf!«, zischte Lucy. »Komm mit!« Sie packte seine Hand – nicht die, in der er die widerliche Tentakelspitze hielt – und zog ihn durch die nasse Küche, mitten durch die Müllpampe und vorbei an den anderen sie stumm beobachtenden Katzen. Sie waren kaum an der Kellertür, als auch schon die Leiter zu wackeln begann. Wolfsjunge warf einen Blick zurück. Die unverwechselbaren Eisendornen an den Stiefeln der Hexenmutter tauchten aus dem Loch in der Decke auf. Widerstandslos ließ er sich von Lucy durch die Tür ziehen.

Er schloss die Tür und wollte den großen Riegel vorschieben.

»Nicht«, flüsterte Lucy. »Lass sie offen. So wie sie war. Sonst erraten sie, dass wir hier sind.«

»Aber...«

»Komm. Beeilung.« Lucy zog ihn die Kellertreppe hinunter. Mit jeder Stufe, die er hinabstieg, sah er ihre Aussichten auf Rettung weiter schwinden. Was hatte Lucy vor?

Am Fuß der Treppe schwappte ein See aus schmutzigem Wasser, das von braunen Kröten wimmelte. Wolfsjunge war entsetzt – war Lucy hier gefangen gehalten worden? Er blieb stehen und fragte sich, wie tief es wohl war. Er war kein Freund von Wasser – es schien immer dann in sein Leben zu treten, wenn alles schiefging. Doch Lucy ließ sich nicht beirren. Sie watete hinein, und mit Erleichterung sah er, dass ihr das Wasser nur bis zu den Knien reichte.

»Nun komm schon«, drängte sie und stieß mit dem Fuß eine Kröte beiseite. »Steh nicht rum und gaff wie ein ausgestopfter Hering.«

Oben in der Küche hüpften die Hexen von der Leiter. Das Knarren der Dielen unter ihren Stiefeln trieb Wolfsjunge ins krötenverseuchte Wasser. Quälend langsam wie in einem schlechten Traum – einem sehr schlechten Traum – watete er hinter Lucy durch den Keller und versuchte dabei, den gezielten Spuckattacken der Kröten auszuweichen. Am anderen Ende des Kellers blieb Lucy stehen und deutete stolz auf eine Stelle in der Mauer, in der ein paar Ziegelsteine fehlten.

»Das ist die alte Kohlenrutsche. Sie haben sie zugemauert. Aber sieh dir den Mörtel an. Er ist falsch angemacht worden und zu Staub zerfallen.« Lucy führte es ihm vor, aber Wolfsjunges Aufmerksamkeit galt nicht der Qualität des Mörtels – er lauschte dem Lärm, der von oben kam. Lucy zog zwei Ziegelsteine aus der Wand und reichte sie ihm.

»Oh, Mist, warte, die hab ich ganz vergessen«, entfuhr es Wolfsjunge, der merkte, dass er die Tentakelspitze noch in der Hand hielt. Hastig steckte er sie in den Lederbeutel, den er auf Tante Zeldas Geheiß am Gürtel trug. Dann nahm er Lucy die Ziegelsteine ab und legte sie leise ins Wasser.

»Ich habe gestern und heute die ganze Zeit daran gearbeitet«, flüsterte Lucy. »Ich war fast draußen, als diese boshafte Ziege gekommen ist und mich gepackt hat.« Hastig entfernte sie noch ein paar Ziegelsteine. »Von hier gelangen wir auf den Gehweg nach oben. Ein Glück, dass du dünn bist. Ich gehe voraus und ziehe dich dann hinauf. Einverstanden?«

Die Stimmen der Hexen in der Küche wurden laut und zornig. Wolfsjunge half Lucy hinauf in das Loch. Sie schlängelte sich hinein, und bald sah er nur noch die nassen Sohlen ihrer Stiefel – und dann war sie ganz verschwunden. Er spähte nach oben, und Staub rieselte herab. Er rieb sich den Staub aus den Augen und grinste. Von weit oben blickte Lucys schmutziges Gesicht zu ihm herab, und hinter ihr war ein kleiner Streifen blauer Himmel zu erkennen.

»Mach schon«, sagte sie ungeduldig. »Hier ist eine komische Krankenschwester, die wissen will, was ich hier tue. Beeil dich!«

Plötzlich drang ein Wutgeheul aus der Küche. »Blut! Blut! Ich rieche Grimblut. Blut, Blut, ich schmecke Grimblut!«

»Oooh!« Das war Dorinda.

Und dann: »Die Blutspur führt zum Keller. Sie haben unseren Grim in den Keller verschleppt!«

Donnerndes Fußgetrappel näherte sich der Kellertreppe.

»Nun mach schon!«, rief Lucys Stimme von oben. »Worauf wartest du denn noch?«

Wolfsjunge wartete auf gar nichts. Als Schritte die Treppe herunterpolterten, hievte er sich in das Loch hinauf. Es war nicht so einfach, wie es bei Lucy ausgesehen hatte. Er war zwar dünn, aber er hatte breite Schultern, und in der Kohlenrutsche war es verflixt eng. Er streckte die Arme über den Kopf, um sich schmaler zu machen, und rutschte, sich Ellbogen und Knie aufschürfend, an den rauen Backsteinen entlang nach oben, dem Licht entgegen. Lucy streckte ihm von oben die Hände entgegen, doch er konnte sie nicht erreichen. Sosehr er sich auch bemühte, er kam nicht vom Fleck.

Aus dem Kohlenkeller schrillte Lindas wütende Stimme: »Hinterhältiger kleiner Rotzlöffel! Ich kann dich sehen. Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst, du ... du Grimtöter!«

Als Nächstes hörte er ein Plätschern. Linda watete hastig durch den Keller. Wolfsjunge überlegte verzweifelt. Er war jetzt eine Wolverine, die in einer Höhle gefangen war. Der Besitzer der Höhle, ein Nachtwaldgeschöpf, war unter ihm aufgewacht. Er musste sofort ans Tageslicht. Sofort. Und dann plötzlich lagen Lucys Hände in seinen, zogen ihn nach oben, zum Licht, zerrten ihn aus der Höhle, während die Nachtkreatur nach seinen Hacken schnappte, ihm die Stiefel von den Füßen zog – und aufjaulte, als die Krötenspucke in ihren Händen brannte.

Wolfsjunge lag in der Spätnachmittagssonne auf dem Straßenpflaster und versuchte, die dunklen Wolverinengedanken abzuschütteln. Aber Lucy ließ ihn nicht.

»Was liegst du da herum, du Dummkopf«, zischte sie. »Sie werden jede Sekunde hier sein. Los, weiter.«

Widerstandslos ließ er sich auf die Beine ziehen und rannte barfuß hinter ihr die Straße hinunter. Er glaubte, hinter sich zu hören, wie die Hexenhaustür aufgeschlossen und entriegelt wurde, und spürte die Blicke der Dunkelkröte in seinem Rücken.

Alle Hexen bis auf Linda waren aus der Tür, noch bevor Lucy und Wolfsjunge um die Ecke gebogen waren. Dorinda hing etwas zurück, da sie befürchtete, ihr Handtuchturban könnte sich lockern. Die Übrigen nahmen die Verfolgung auf, aber die Hexenmutter kam nicht weiter als bis zur Eingangstreppe des Nachbarhauses und gab dann auf. Ihre Stiefel taugten nicht für eine heiße Verfolgungsjagd. Somit blieben nur Daphne und Veronica übrig, die in ihrem sehr eigenwilligen Laufstil – Knie zusammen, Füße nach außen – über das Pflaster klapperten. Es war kein sehr raumgreifender Stil, und Dorinda erkannte sofort, dass sie Wolfsjunge und Lucy niemals einholen würden. Dies hätte ihr auch weiter nichts ausgemacht, hätte sie beim Anblick der beiden Hand in Hand Flüchtenden nicht plötzlich rasende Eifersucht empfunden. Und so machte sie kehrt, um im Keller nach Linda zu sehen.

Genau in diesem Augenblick kam Linda aus der Tür geschossen, buchstäblich wie ein Blitz. Die Hexen des Porter Zirkels ritten nicht mehr auf Besen – Besenreiten war völlig aus der Mode –, sondern auf Blitzbrettern, und Linda war darin besonders gut. Ein Blitzbrett war ein einfaches, aber gefährliches Gerät. Man brauchte dazu nichts weiter als eine kleine Holzplatte und einen Schockblitz, der langsam seine Energie freisetzte. Der Schockblitz wurde vor das Brett gespannt, auf dem der Reiter, so gut es ging, das Gleichgewicht hielt. Dann aktivierte der Reiter den Schockblitz im Vertrauen darauf, dass ihm das Glück hold war und niemand ihm in die Quere kam.

Linda kam normalerweise niemand in die Quere, wenn sie mit dem Blitzbrett unterwegs war. Voller Bewunderung sahen Dorinda und die Hexenmutter zu, wie sie jetzt auf ihrem Brett (das eigentlich die Deckplatte von Dorindas Frisierkommode war) die vordere Straße hinunterflitzte, eine Gruppe älterer Damen auseinanderscheuchte und mit der tosenden Flamme, die unter dem Brett hervorschoss, den Handkarren der Zeitungsausträgerin vom Porter Tagesanzeiger in Brand setzte. Im Nu überholte sie Daphne und Veronica, die gerade mädchenhaft um die Ecke trippelten. Vor lauter Schreck purzelten die beiden die Kellertreppe des hiesigen Fischhändlers hinunter. Irgendwann tauchten sie wieder auf, über und über mit Fischinnereien bedeckt.

Zu Lindas Verdruss war von Lucy und Wolfsjunge nichts zu sehen, aber davon ließ sie sich nicht entmutigen. Linda war Expertin im Aufspüren entflohener Gefangener. Nach einer von ihr entwickelten narrensicheren Methode begann sie, das Gewirr von Straßen, die zum Hafen hinunterführten, systematisch zu durchkämmen. Auf diese Weise konnte sie sicher sein, dass sie die Beute immer vor sich hatte. Es war, so fand sie, wie wenn man Schafe in einen Pferch trieb – Schafe, die bald darauf Bekanntschaft mit Pfefferminzsoße und Bratkartoffeln machen sollten. Die Methode war todsicher.

Septimus Heap 05 - Syren
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